• Beitrags-Kategorie:Mathematik
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Im Beitrag Differentialrechnung – ein Überblick wurde ein erster Einblick in die Motivation und die Grundidee der Differentialrechnung gegeben. An dieser Stelle soll es um ein tieferes Verständnis gehen. Insbesondere die Produktregel und die Kettenregel werden im Mittelpunkt stehen; denn mit ihrer Hilfe und den Ableitungen der elementaren Funktionen kann man fast jede Funktion differenzieren.

Rekapitulation: was ist differenzieren?

Zur Erinnerung: eine Funktion zu differenzieren (man sagt auch „abzuleiten“) bedeutet, die Steigung der Funktion an einem Punkt innerhalb ihres Wertebereichs zu ermitteln. Geometrisch entspricht die Steigung der Funktion f(x) an der Stelle x der Steigung der Tangente der Funktionskurve im Punkt (x/f(x)). Sie ergibt sich als Grenzwert des Quotienten aus \(\frac{\Delta f}{\Delta x}\), wenn Δx gegen Null geht; oder als Formel:
\[\lim_{\Delta x \to 0} \frac{\Delta f}{\Delta x}=\lim_{\Delta x \to 0} \frac{f(x+\Delta x)-f(x)}{\Delta x}\]
Die Ableitung wird entweder f'(x) oder df/dx geschrieben.
Für viele elementare Funktionen (x², sin(x), cos(x), exp(x) etc.) ist die jeweilige Ableitung bereits ermittelt worden und kann in Tabellen nachgeschaut werden.

Produktregel

Bei Funktionen, die aus elementaren Funktionen zusammengesetzt sind, stellt sich die Frage, ob es allgemeine Differenzierungsregeln gibt. Die Antwort ist wie erwartet: es gibt sie.

Als Erstes schauen wir uns an, wie ein Produkt zweier Funktionen \(y(x) = f(x) \cdot\ g(x)\) differenziert wird. Die Produktregel lautet
\[y'(x) = \frac{dy}{dx} = f(x) \cdot g'(x) + f'(x) \cdot g(x)\]
Ein Produkt zweier Funktionen f und g von x wird also differenziert, indem das Produkt der ersten mit der Ableitung der zweiten Funktion zum Produkt der zweiten mit der Ableitung der ersten Funktion addiert wird. Die Herleitung dieser Regel geht folgendermaßen:
\[y'(x) = \lim_{\Delta x \to 0} \frac{y(x+\Delta x)-y(x)}{\Delta x}\]
\[= \lim_{\Delta x \to 0} \frac{f(x+\Delta x) \cdot g(x+\Delta x) – f(x) \cdot g(x)}{\Delta x} \]
Und jetzt der Trick: es wird \(f(x+\Delta x) \cdot g(x)\) im Zähler erst dazu addiert und direkt wieder subtrahiert; es ändert sich also an der Gleichung nichts:
\[= \lim_{\Delta x \to 0} \frac{f(x+\Delta x) \cdot g(x+\Delta x) – f(x) \cdot g(x) + f(x+\Delta x) \cdot g(x) – f(x+\Delta x) \cdot g(x)}{\Delta x}\]
Aus dem ersten und letzten Summanden im Zähler wird \(f(x+\Delta x)\) und aus den mittleren Summanden \(g(x)\) ausgeklammert:
\[= \lim_{\Delta x \to 0} \frac{f(x+\Delta x) \cdot (g(x+\Delta x) – g(x)) + (f(x+\Delta x) – f(x)) \cdot g(x)}{\Delta x}\]

Oder etwas anders geschrieben:

\[= \lim_{\Delta x \to 0} \Biggl(f(x+\Delta x) \cdot \frac{g(x+\Delta x) – g(x)}{\Delta x} + \frac{f(x+\Delta x) – f(x)}{\Delta x} \cdot g(x)\Biggr)\]

Jetzt klärt sich die Sache; denn:

\[\lim_{\Delta x \to 0} \frac{f(x+\Delta x )-f(x)}{\Delta x}=f'(x)\]

\[\lim_{\Delta x \to 0} \frac{g(x+\Delta x )-g(x)}{\Delta x}=g'(x)\]

Und \(f(x+\Delta x)\) geht beim Übergang zu Δx=0 über in \(f(x)\).

Alles in allem ergibt sich also die Produktregel:

\[y'(x)=f(x) \cdot g'(x) + f'(x) \cdot g(x)\]

Die ganze Herleitung der Produktregel ist im beistehenden Video nochmals zusammen gefasst (bei Bedarf stoppen und wieder starten…).

Video: Herleitung der Produktregel

Mit Hilfe der Produktregel können unter Beachtung der Ableitungen elementarer Funktionen viele Differentiationsregeln hergeleitet werden. Beispiele:

Die Ableitung von \(y(x) = c \cdot g(x)\) – c ist ein konstanter Faktor – lautet:

\(y'(x) = c \cdot g'(x)\)

Herleitung:

Wenn man in der Produktregel f(x) = c setzt, gilt:

\(y'(x)=c \cdot g'(x)+c‘ \cdot g(x)\)

c‘ als Ableitung der Konstante c ist 0; es bleibt also

\(y'(x)=c \cdot g'(x)\)

Die Ableitung von \(y(x) = x^3\) ist:

\(y'(x) = 3 \cdot x^2\)

Herleitung:

\(y(x) = x^3\) kann man schreiben als

\(y(x)=x \cdot x^2\)

Mit f(x)=x und g(x)=x² lautet die Produktregel:

\(y'(x)=x \cdot (x^2)’+x‘ \cdot x^2\)

Die Ableitung von x² ist 2x, die von x ist 1; also

\(y'(x)=x \cdot 2x+x^2\) = \(2x^2+x^2\) = \(3x^2\)

Den gleichen Trick kann man für höhere Exponenten von x anwenden, indem man z.B. \(x^4\) als \(x \cdot x^3\) schreibt. Man kommt so Schritt für Schritt zur Regel: Für \(y(x)=x^n\) lautet die Ableitung \(y'(x)=n \cdot x^{n-1}\)

Kettenregel

Eine weitere, sehr wichtige Differentialtionsregel ist die Kettenregel, die in unzähligen Anwendungen zum Tragen kommt. Um sie zu erläutern ist ein wenig Ausholen notwendig:

Beginnen wir mit einer Funktion y, die von der Variablen x abhängt; z.B. \(y(x)=x^2\). Die Ableitung von y nach x lautet dann \(y'(x)=2 \cdot x\). So weit, so gut.

x kann aber selbst die Funktion einer anderen Variablen t sein: x(t), z.B. \(x(t)=t^3\). Die Ableitung von x nach t lautet dann \(x'(t)=3 \cdot t^2\).

Da y eine Funktion von x und x eine Funktion von t ist, ist auch y eine Funktion von t: \(y(x(t))\) In vielen Anwendungen möchte man in so einem Fall wissen, wie die Ableitung von y nach t anstatt nach x aussieht. Die Antwort gibt die Kettenregel, die sich am besten mit der Schreibweise des Differenzialquotienten ausdrücken lässt:

\[\frac{dy}{dt}=\frac{dy}{dx}\cdot \frac{dx}{dt}\]

Man leitet also erst y nach x ab (ohne auf dessen Abhängigkeit von t zu achten), bildet dann die Ableitung von x nach t und multipliziert die beiden Ableitungen miteinander. Setzt man dann in der Ableitung dy/dt x(t) ein, bekommt man die Gleichung für die Ableitung von y nach t. Ich weiß: klingt kompliziert. Deshalb das Ganze durchgerechnet anhand des Beispiels:

\(y'(x)=\frac{dy}{dx}=2 \cdot x\) und \(x'(t)=\frac{dx}{dt}=3 \cdot t^2\)

Multiplizieren der beiden Ableitungen:

\[\frac{dy}{dt}=\frac{dy}{dx} \cdot \frac{dx}{dt}=(2 \cdot x) \cdot (3 \cdot t^2)\]

Einsetzen von \(t^3\) für x ergibt

\[\frac{dy}{dt}=(2 \cdot t^3) \cdot (3 \cdot t^2)=6\cdot t^5\]

Das war’s: die Ableitung von y nach t lautet \(6 \cdot t^5\).

Wir können in diesem Fall überprüfen ob das stimmt; denn beim Einsetzen von t³ für x in die Gleichung für y ergibt sich \(y=x^2=(t^3)^2=t^6\). Anwendung der Ableitungsregel für \(y(t)=t^6\) ergibt \(y'(t)=6 \cdot t^5\)!

Herleitung der Kettenregel:

Eine exakte Herleitung der Kettenregel ist etwas kompliziert. Wir begnügen uns mit einer Plausibilisierung. Der Differenzenquotient, aus dem durch Übergang zu Δt=0 die Ableitung von y nach t gebildet wird, lautet \(\frac{\Delta y}{\Delta t}\). Diesen kann man mit Δx erweitern:

\[\frac{\Delta y}{\Delta t}=\frac{\Delta y}{\Delta x} \cdot \frac{\Delta x}{\Delta t}\]

Beim Übergang von Δt zu Null geht auch Δx gegen Null und die beiden Brüche werden zu den jeweiligen Differentialquotienten. Dass Δx mit Δt gegen Null geht, liegt daran, dass eine Funktion stetig sein muss, um differenzierbar sein zu können.

Ein anderer Zugang zur Kettenregel benutzt die Tatsache, dass die Ableitung gleich der Steigung der Tangente ist:

Wir gehen davon aus, dass \(y\) eine Funktion von \(x\) und \(x\) eine Funktion von \(t\) ist.

  • \(y=y(x)\) hat an der Stelle \(x_0\) den Wert \(y_0\): \(y(x_0)=y_0\); die Ableitung an dieser Stelle ist \(y_{0}^{\prime}=m_{x_0}\).
  • Die Tangente \(y_T (x)\) durch den Punkt \(x_0/y_0\) hat dann die Geradengleichung \(y_T(x)=m_{x_0}\cdot x+b_x\).
  • Wichtig: \(y(x)\) und \(y_T(x)\) haben – aufgrund der Definition der Tangente – den gleichen Wert an der Stelle \(x_0\).
  • Jetzt wiederholen wir das Ganze für \(x(t)\): \(x(t_0)=x_0\); \(x_{0}^{\prime}=m_{t_0}\) und die Geradengleichung der Tangente ist \(x_T(t)=m_{t_0}\cdot t+b_t\).
  • Wieder ist \(x(t)=x_T^{\prime}(t)\) an der Stelle \(t_0\).
  • Jetzt betrachtet man \(y_T(x)\) an der Stelle \(x_0\) und setzt die Gleichung für \(x_T(t)\) an der Stelle \(t_0\) ein, wodurch \(y_T(x)\) zu \(y_T(t)\) wird: \(y_T(t_0)=m_{x_0}\cdot (m_{t_0}\cdot t_0+b_t)+b_x\).
  • Ausmultiplizieren der Klammer ergibt: \(y_T(t_0)=m_{x_0}\cdot m_{t_0}\cdot t_0+m_{x_0}\cdot b_t+b_x\).
  • Das ist eine Geradengleichung mit der Variablen \(t\) und der Steigung \(m_{x_0}\cdot m_{t_0}\) und dem Achsenabschnitt \(m_{x_0}\cdot b_t+b_x\).
  • Drückt  man also die Steigung der Tangente von \(y(x)\) durch die Steigung von \(y(x(t))\) aus,  ist die Steigung von \(y(t)\) gleich dem Produkt der Ableitungen \(y^\prime (x)\) und \(x^\prime (t)\).
Da dies alles ziemlich starker Tobak ist, hier ein Video, das diesen Weg visualisieren soll:

Auch für die Kettenregel ein paar Beispiele:

Die Ableitung von \(y(x) = e^{x^2} \) ist:

\(y'(x) = 2 \cdot x \cdot e^{x^2}\)

Herleitung:

Nachschauen in einer Tabelle mit Ableitungen elementarer Funktionen zeigt: für \(y(x)=e^x\) ist \(y'(x)=e^x\) (die Ableitung von \(e^x\) ist wieder \(e^x\))

Wir haben es aber mit x² im Exponenten zu tun, nicht mit x! Wenn im Exponenten nur eine einfache Variable (z.B. z) stünde (also \(y(z)=e^z\)), wäre \(\frac{dy}{dz}=e^z\). Mit der Substitution \(z(x)=x^2\) kann man die Kettenregel anwenden:
\[\frac{dy}{dx}=\frac{dy}{dz} \cdot \frac{dz}{dx}\]
\[\frac{dy}{dx}=e^z \cdot 2 \cdot x\]
Einsetzen von x² für z ergibt schließlich
\[\frac{dy}{dx}=2 \cdot x \cdot e^{x^2}\]

Die Ableitung von \(y(x) = (2 \cdot x)^n \) ist:

\(y'(x) = n \cdot 2^n \cdot x^{n-1}\)

Herleitung:

Nachschauen in einer Tabelle mit Ableitungen elementarer Funktionen zeigt: für \(y(x)=x^n\) ist \(y'(x)=n \cdot x^{n-1}\)

Wir sollen aber \(2 \cdot x\) hoch n nehmen, nicht x! Deshalb setzen wir \(z(x)=2 \cdot x\) in y(x) ein und erhalten \(y(z)=z^n\). Mit der Kettenregel ergibt sich:
\[\frac{dy}{dx}=\frac{dy}{dz} \cdot \frac{dz}{dx}\]
\[\frac{dy}{dx}=n \cdot z^{n-1} \cdot 2\]
Einsetzen von \(2 \cdot x\) für z ergibt
\[\frac{dy}{dx}=n \cdot (2 \cdot x)^{n-1} \cdot 2\]
\[=n \cdot 2^{n-1} \cdot x^{n-1} \cdot 2\]
\[=n \cdot 2^n \cdot x^{n-1}\]
 
Das Ergebnis kann mit folgender Probe überprüft werden:
\[y(x)=(2 \cdot x)^n=2^n \cdot x^n\]
\(2^n\) ist konstant (von x unabhängig), bleibt beim Differenzieren also als Faktor erhalten. Und die Ableitung von \(x^n\) ist \(n \cdot x^{n-1}\). Also ist die gesamte Ableitung \(=n \cdot 2^n \cdot x^{n-1}\)

Zum Schluss zeigen wir noch mit Hilfe der Kettenregel, dass für \(y(x)=x^n\) auch dann \(y'(x)=n \cdot x^{n-1}\) gilt, wenn n ein Bruch und keine natürliche Zahl ist (kleine Warnung: die Rechnung ist etwas länglich, aber mit ein wenig Ausdauer leicht nach zu vollziehen:

Der Exponent n kann mit einer zweiten natürlichen Zahl m erweitert und gemäß Potenzregeln umgeformt werden:

\[y(x)=x^{\frac{n \cdot m}{m}}=(x^{\frac{n}{m}})^m\]

Wir setzen \(z(x)=x^{\frac{n}{m}}\). Damit wird y zu \(y(z)=z^m\) und es gilt gemäß der bekannten Differentiationsregeln:

\[\frac{dy}{dz}=m \cdot z^{m-1}\]

Andererseits hat y(x) wie wir wissen die Ableitung

\[\frac{dy}{dx}=n \cdot x^{n-1}\]

Laut Kettenregel gilt aber auch

\[\frac{dy}{dx}=\frac{dy}{dz} \cdot \frac{dz}{dx}\]

Einsetzen der ersten beiden Differentialquotienten und Auflösung nach \(\frac{dz}{dx}\) ergibt

\[\frac{dz}{dx}=\frac{n}{m} \cdot \frac{x^{n-1}}{z^{m-1}}\]

Füz \(z\) wird wieder \(x^{\frac{n}{m}}\) eingesetzt und dann beginnt eine Potenzformel-Orgie:

\[\frac{dz}{dx}=\frac{n}{m} \cdot \frac{x^{n-1}}{(x^{\frac{n}{m}})^{m-1}}\]

\[=\frac{n}{m} \cdot \frac{x^{n-1}}{x^{\frac{n}{m} \cdot (m-1)}}\]

\[=\frac{n}{m} \cdot \frac{x^{n-1}}{x^{n-\frac{n}{m}}}\]

\[=\frac{n}{m} \cdot x^{(n-1)-(n-\frac{n}{m})}\]

und schon sind wir – nach gefühlten 5 Jahren – fertig:

\[\frac{dz}{dx}=\frac{n}{m} \cdot x^{\frac{n}{m}-1}\]

Wenn wir jetzt noch den Bruch \(\frac{n}{m}\) zu p und z zu y umbenennen dann haben wir für einen Bruch im Exponenten von x haargenau die gleiche Ableitungsregel wie für eine natürliche Zahl:

Die Ableitung von \(y(x)=x^p\) lautet \(y'(x)=p \cdot x^{p-1}\).